Gönn dir!

Werbung macht aus Egoismus eine Tugend

Ein Werbeplakat mit der Aufschriftt "Gönn Dir" in Berlin Neukölln.
Die Werbebranche hat "Gönn Dir" als Slogan für jeglichen Konsum entdeckt: Auch ein Shoppingcenter in Berlin-Neukölln soll man sich mittlerweile gönnen. © picture alliance / Jochen Eckel
Ein Einwurf von Heike-Melba Fendel · 24.03.2023
„Self-Care“ und „Gönn dir“ treten den Siegeszug in der Produkt- und Markenwelt an. Sie verheißen Konsum ohne Reue und feiern Egoismus als Tugend, findet die Autorin Heike-Melba Fendel. Notwendiger Verzicht wird da schnell verachtet bis verspottet.
Ob Alkohol oder Auszeit, Schnitzel oder Schaumbad, Porsche oder Preziosen – allerorten wird man derzeit ermuntert, sich etwas zu gönnen. “Gönn dir!” ist der Imperativ der Stunde: Kochbücher, Cannabis-Produkte oder Verbraucherportale nutzen “Gönn dir!” als Titel oder Markenname, der Influencer TWENTY4TIM erzielte vergangenen Herbst mit seinem Song “Gönn dir!” über sechs Millionen YouTube-Abrufe und das ZDF ruft zur selben Zeit in seinem Dokuformat 37 Grad gleich eine ganze “Generation Gönn dir!” aus.

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Gemeint ist natürlich die junge Generation. Liefert doch die unablässige Verwendung eines Ausdrucks ebenso wie dessen grammatische Beliebigkeit – Gönn dir Döner! – deutliche Hinweise auf einen Ursprung in der Jugendsprache. So landete “Gönn dir” nach “Läuft bei dir” schon 2014 auf dem zweiten Platz als Jugendwort des Jahres.
Anders als “cringe”, “smash” oder eben “läuft bei dir”, hat jedoch “Gönn Dir”, knapp zehn Jahre nach seiner Auszeichnung als Jugendwort, nicht allein Eingang in die Alltagssprache gefunden, sondern zuletzt auch seinen Siegeszug in der Produkt- und Markenwelt angetreten. 

Schlecht fürs Klima, gut fürs Konsumklima

Warum bloß und vor allem: warum jetzt? Ist etwa, anders als in den Nullerjahren lauthals gekräht wurde, Geiz nicht mehr geil. Können wir Deutsche jetzt auch großzügig, sollte sich also das ganze Land dem kölschen Leitspruch ”mer muss och jünne künne” - man muss auch gönnen können - gebeugt haben?
Nein. Um die anderen geht es doch gar nicht. Es sind wir selbst, die sich etwas gönnen wollen und sollen. Dazu ermutigen wir einander. Wir, denen man, pandemiebedingt, drei bittere Jahre lang viel zu wenig Freiheit gegönnt hat. Wir, die wir uns weniger Stromkonsum, Fleischkonsum und überhaupt Konsum gönnen sollen, weil Kauflaune zwar gut fürs Konsumklima, aber schlecht fürs Klima ist. Wir also, die endlich wieder an uns denken müssen, weil es sonst keiner tut. Die Gesundheitsapostel nicht, die Gerechtigkeitsfanatiker erst recht nicht und die Grünen schon gar nicht.

Blanker Egoismus wird zur Tugend erhoben

Es sind also unsere Überforderung und, ja, auch unsere Ignoranz, die dem grassierenden Sich-gönnen-Können, -Sollen oder -Müssen Pate stehen. Wie die nicht minder selbstgerechte Wahlschwester “Self-Care” macht das grassierende Primat des Sich-Gönnens blanken Egoismus gleichermaßen zu einer Tugend wie einem Produkt.
Kein Wunder also, dass die Werbewirtschaft das Gönnen zyklisch aus der Vorratskammer ihrer Werbebotschaften zieht, um Überkonsum schmackhaft zu machen. Das aktuelle populäre “Gönn dir!” ist ja nichts anderes als der zum Imperativ upgecycelte Claim der Kümmel-Spirituose Aquavit “Man gönnt sich ja sonst nichts”. Gesicht dieser enorm populären und in den 1990er-Jahren zu Tode zitierten Kampagne war der ebenso beliebte wie beleibte Schauspieler Günter Strack. Dessen Leibesfülle wies darauf hin, dass - haha, Ironie! - er sich eben genau auch sonst immer alles gönnt.

Reueloser Konsum und gezieltes Wegschauen

Diese Werbung stammt aus den späten 80ern. Jenem Jahrzehnt also, das, von Ronald Reagans Krieg der Sterne über den massiven Fortgang des Waldsterbens bis zum grassierenden Fitnesswahn und vielem mehr eine Schneise der Verwüstung durch gesunde Natur und gesunden Menschenverstand gezogen hat. Auch das haben wir uns gegönnt. Wie wir bis heute uns und allen anderen allenfalls reuelosen Konsum oder gezieltes Wegschauen gönnen.
Meinungen, die der eigenen entgegenstehen, werden hingegen ungern bis gar nicht geduldet - Stichwort Twitter. Notwendiger Verzicht wird verachtet bis verspottet - Stichwort Veggie-Day. Überfällige Veränderungen werden bekämpft oder ausgesessen - Stichwort Tempolimit. 
Was im Grunde nur einen Schluss zulässt: Über den eigenen Schatten springen? Gönn dir!

Heike-Melba Fendel ist Künstler-/PR-Agentin und Inhaberin der Agentur Barbarella Entertainment. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und Buchautorin. Fendel gehört zum Autorinnenkollektiv der Kolumne „10 nach 8 – politisch, poetisch, polemisch“ auf zeit.de. 2009 erschien ihr aus 99 Geschichten bestehender Roman „nur die“ bei Hoffmann und Campe. Ihr zweiter Roman „Zehn Tage im Februar“ (2017) spielt vor dem Hintergrund der Berlinale.

Die Autorin Heike Melba-Fendel
© Markus Nass
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